Herausforderungen im queeren China: Coming-Out und Familiengründung
Nicht nur von offizieller Seite haben es Mitglieder der chinesischen LGBT-Community schwer. Das größte Problem stellt für die meisten Betroffenen weiterhin das Coming-out in der eigenen Familie dar. Interessanterweise ist meistens nicht die Homosexualität an sich das Problem, wie etwa in katholisch-konservativ geprägten Gesellschaften, sondern die Kinderfrage bei gleichgeschlechtlichen Paaren, die zu Zerwürfnissen mit den Eltern führen. Denn vor allem die Eltern und das soziale Umfeld erwarten, dass junge Menschen nahe an der 30, heiraten und Nachkommen zeugen.
Gerade für eine Generation, die meistens geschwisterlos aufgewachsen ist, herrscht ein großer Druck. Manche Homosexuelle lassen sich deshalb auf Hetero-Scheinehen mit einem homosexuellen Partner des anderen Geschlechts ein, oft aus dem eigenen Freundeskreis stammend oder per Announce gefunden, und führen dann ein homosexuelles Parallelleben. Wie zentral die Pflicht der Zeugung von Nachkommen gegenüber den Eltern ist und welche Probleme daraus für Homosexuelle entstehen, beleuchtet eindrucksvoll der Dokumentarfilm „Inside the Chinese Closet“, der 2016 auf der Berlinale lief.[11]
Da die traditionelle Ansicht vorherrscht, dass Töchter nach ihrer Heirat zu der Familie des Mannes gehören, stehen besonders lesbische Frauen vor einem Dilemma. Zum einen sind viele Familien nicht bereit (und auch nicht darauf vorbereitet), ihre Töchter ein Leben lang zu unterstützen, zum anderen gibt es weiterhin die geschlechterbasierte Diskriminierung von Frauen, was den Zugang zu Bildung und Arbeit betrifft. Denn wie auch in vielen anderen Ländern haben chinesische Frauen es im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen schwerer, in höhere Positionen aufzusteigen und die gleichen Löhne zu bekommen.
Die Institution Familie beinhaltet gerade angesichts fehlender Staatswohlfahrt auch die finanzielle Versorgung ihrer Mitglieder sowie die gegenseitige Hilfe bei Erkrankungen, was vor allem bei Frauen, die nicht finanziell auf eigenen Beinen stehen, überlebenswichtig sein kann. Mit zunehmendem Alter werden in Betrieben zuallererst Frauen in die Frührente geschickt, um den Jüngeren Platz zu schaffen. Angesichts der erbitterten Konkurrenz unter jungen Leuten aufgrund des Überflusses an Arbeitskräften, kämpfen vor allem Frauen aus den unteren sozialen Schichten damit, sich überhaupt irgendwie über Wasser zu halten.[12]
Die Entscheidung gegen eine Heirat und auch das Kinderkriegen, hat für eine lesbische Frau in China daher eine ganz andere Dimension als – sagen wir mal – in Deutschland, wo es möglich und allgemein akzeptiert ist, als Frau beruflich selbstständig zu sein. Im chinesischen Fall kann die Verweigerung einer Heirat zum kompletten Ausschluss aus der eigenen Familie führen, einhergehend mit massiver psychologischer Belastung.
Diese frauenspezifischen Belastungen zeigen sich auch innerhalb der Aktivistenszene. Sudas Recherchen zufolge waren Aktivistinnen, die sich mehrheitlich für lesbische Rechte und Interessen einsetzen, in den meisten Fällen städtische Frauen mit relativ hohem Bildungsgrad und stabilen Einkommensverhältnissen. Finanziell und sozial besser gestellte Frauen sind sich nicht nur durch den Zugang zu mehr Bildung der Gesamtsituation der lesbischen Frauen vielleicht bewusster, sondern haben vor allem auch die Zeit, Kraft und Freiheit, sich zu engagieren. Dahinter verbirgt sich oft auch der Wunsch, die Situation der Frauen verstärkt in der Öffentlichkeit zu thematisieren, um dadurch die geschlechterspezifische Diskriminierung zu bekämpfen.
LGBT-Himmel und Hölle? Der Vergleich mit Taiwan
Blickt man auf Taiwan, ist die Situation eine vollkommen andere – das schlägt sich übrigens auch in den Bildern für diesen Artikel nieder, die mehrheitlich aus Taiwan stammen. Dort sind LGBT-Organisationen erlaubt und Aktivisten fordern eine selbstbestimmte sexuelle Identität als globales Menschenrecht ein. Unter Berufung auf die universellen Menschenrechte setzen sie gemeinsam mit transnationalen NGOs die taiwanische Regierung unter Druck. Seit Ende November 2016 wird erhitzt um die rechtliche Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Ehen debattiert. Der Ausgang ist noch offen. Ein Urteil wird noch in diesem Jahr erwartet, vor den Regionalwahlen 2018.[13]
In Taiwan ist es für Homosexuelle in den meisten Städten bereits möglich, sich – ähnlich wie in Deutschland – offiziell als in einer Partnerschaft lebend eintragen zu lassen.[14] Allerdings sind sie rechtlich noch nicht den zivilen Ehen gleichgestellt. Genauso ist die Vermittlung von sexueller Vielfalt fester Bestand in der Bildung und den Wissenschaften. Taiwan gilt als die liberale Hochburg für die LGBT-Szene Asiens.[15]
Festlandchinesische Aktivistinnen sind hingegen noch weit entfernt von diesem Punkt. Um ihre Arbeit nicht zu gefährden, vermeiden sie eine öffentlich-mediale Thematisierung von globalen Menschenrechten und konkrete politische Forderungen. Schließlich sind Menschenrechte in der Volksrepublik ein Tabuthema. Insbesondere unter Xi Jinping haben sich die Repressionen gegenüber Menschenrechts-Aktivisten sogar verschärft, sowohl durch Internetzensur als auch durch Inhaftierung.[16] Aber trotz der wiederholten Rückschläge: das Fortbestehen der queeren Selbstorganisationen auf dem Festland zeigen, dass die Bewegung sich nicht unterkriegen lässt und sich weiterhin selbstbewusst für ihre Anliegen einsetzt.
[11] Vice hat mit Will, einem schwulen Studenten über Coming-Out und die generelle Situation für Homosexuelle in China gesprochen. Das Interview ist auf deutsch und von 2015: http://www.vice.com/alps/read/wie-es-ist-sich-in-china-als-schwul-zu-outen-862.
[12] Siehe hierzu zum Beispiel die Werke von Tamara Jacka zu Wanderarbeiterinnen “Rural women in urban China: gender, migrantion, and social change”, Armonk, N.Y.: Sharpe, 2006; die Leslie T.Chang hat außerdem hierzu auch eine spannende Sammlung von persönlicher Geschichten von chinesischen Wanderarbeiterinnen publiziert: Leslie T. Chang, “Factory girls: voices from the heart of modern China”. Hier ein TED-Talk der Autorin zu dem Thema.
[13] Berichte gibt es u.a. bei Voice of America, der New York Times und dem Public Broadcasting Service (PBS).
[14] Bericht der Washington Blade.
[15] Hier etwa ein Queer Cityguide von Taipei aus 2012, der bis heute auf viel positive Resonanz stieß.
[16]Suda, 23.
Image credits: Flickr photos “Shanghai Gay Pride 2009 – Shanghai, China” 1 & 2 by Kris Krug and photos of pride parades in Taiwan 1, 2 & 3 by SSKao shared under a Creative Commons (BY-SA) license; “2010 LGBT Parade in Kaohsiung (高雄同志大遊行) – 22″ by 謝一麟 Chiā, It-lîn and poster by 羅yc shared under a Creative Commons (BY-NC-ND) license. Photo of Kimiko Suda © Kimiko Suda.