Chinas kleine Kaiser (小皇帝 xiǎo huáng dì) stehen heute sinnbildlich für eine Generation, die ohne Geschwister aufgewachsen und mit vielen Vorurteilen behaftet ist – von verwöhnt und verzogen bis egoistisch. Die Ein-Kind-Politik hat die chinesische Gesellschaft und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen verändert. Auch die Liebe hat sich im Land der “Lonely Men” und “Leftover Women” dadurch gewandelt.
Am 29. Oktober 2015 rückte die Ein-Kind-Politik nach langer Zeit wieder ins Rampenlicht des Weltgeschehens: Peking gab an diesem Tag das Ende der 1979 eingeführten Regelung bekannt. Die einst großen und kinderreichen Familien Chinas sind durch Jahrzehnte der Geburtenkontrolle stark geschrumpft: Die Norm ist heute ein 4-2-1-Modell, bestehend aus Großeltern, Vater, Mutter und einem Kind. Mit dem Ende der Ein-Kind-Politik möchte die chinesische Regierung vor allem eines: der Überalterung Chinas entgegenwirken. Doch neben einer zunehmend älter werdenden Bevölkerung hat China mit noch vielen weiteren sozialen Konsequenzen zu kämpfen.
Warum nur ein Kind?
Im Jahr 1949 lebten in China geschätzt 542 Millionen Menschen. Trotz Mao Zedongs Kampagnen des “Großen Sprungs nach vorne” (大跃进 dà yuè jìn, 1959 – 1962), die das Land in eine bittere Hungersnot stürzte und der Kulturrevolution (文化大革命 wén huà dà gé mìng, 1966 – 1976), die Millionen das Leben kosteten, drohte Chinas Bevölkerung Ende der 1970er Jahre aus allen Nähten zu platzen. Durch eine zuverlässigere Nahrungssicherung, die Erholung der Wirtschaft und eine zunehmende Verbesserung der Lebensbedingungen und des Gesundheitswesens fiel die Mortalität von 20% (1949) auf 7,6% (1970). Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg und die Geburtenrate zu jener Zeit war noch sehr hoch, wodurch der Beginn eines Rekord-Bevölkerungswachstums eingeläutet wurde. 1974 kratzte Chinas Bevölkerung mit 900 Millionen bereits an der Milliarden-Grenze.
Die kommunistische Partei sah in der immer stärker wachsenden Bevölkerung eine Gefahr, also griff sie zu dem drastischen Mittel der Ein-Kind-Politik. Rigorose Strafen und menschenunwürdige Methoden – von systematischer Diskriminierung gegen “illegitime” Kinder bis hin zur Zwangsabtreibung – legten einen dunklen Schatten über die Familienplanung. Zunehmende Proteste der Bevölkerung übten Druck auf die Regierung aus, die einige Jahre später vor allem in ländlichen Regionen Lockerungen und Ausnahmen genehmigte. Zum Ende hin waren knapp ein Drittel der Chinesen von der Regelung betroffen.
Wachstumsrate der chinesischen Bevölkerung 1960 – 2015. Quelle: WorldBank.
Helikoptereltern hoch 3
Der Begriff des „kleinen Kaisers” (小皇帝) ist in China zu einem geflügelten Wort geworden und wird mit Charaktereigenschaften wie „unselbstständig“, „verweichlicht“ und „egozentrisch“ in Verbindung gebracht. Manche Eltern schicken ihre Kinder in Sommercamps, wo sie zu selbstständigen Menschen erzogen werden sollen und alltägliche Haushaltsdinge lernen. Diese Defizite entwickelten sich dadurch, dass viele Eltern ihren Kindern jegliche Arbeit abgenommen hatten, um ihnen mehr Zeit zum Lernen einzuräumen. Dieses Problem ist zwar nicht nur auf Einzelkinder beschränkt, tritt aber in der 4-2-1-Konstellation besonders hervor: die Ausbildung hat oberste Priorität und ein gut bezahlter Job ist das Ziel, damit nicht nur die eigenen materiellen Träume erfüllt werden können, sondern auch die Altersvorsorge der Eltern abgesichert ist. Angeblich wird in manchen Stellenausschreibungen heute sogar explizit erwähnt, dass Einzelkinder als Bewerber unerwünscht sind. Was läuft da schief?
In vielen chinesischen Familien ist das Kind einem schwerem Konkurrenzdruck ausgesetzt. Dieser oft zentrale Bestandteil der Erziehung beeinflusst Werte und Normen. Unter Chinas Schülerinnen und Schüler ist der Ausdruck 压力山大 (yā lì shān dà = “Der Druck ist so hoch wie Berge”) weit verbreitet. An anderer Stelle haben wir die gāo kǎo (高考), das chinesische Äquivalent des Abiturs, vorgestellt. Dieser Druck droht, jungen Menschen die Leichtigkeit und Unbeschwertheit der Jugend zu rauben, und hemmt im schlimmsten Fall die freie Entfaltung des Charakters.
Zusammensein 2.0
Neben den hohen Erwartungen der Familie an die Karriere der Kinder spitzt sich auch die Suche nach einem Lebenspartner zu. Medien und neue Technologien prägen die Vorstellungen einem “perfekten Paar” und allem, was dazu gehört. Dating-Apps und Internet-Plattformen versprechen das Blaue vom Himmel und machen suchende Singles dabei häufig wählerischer. Dieses Phänomen betrifft natürlich nicht nur China. Doch im Internet kursiert, dass Seitensprünge über WeChat die Scheidungsraten in China in den letzten Jahren in die Höhe schießen ließen. Liegt das Ministerium für Zivile Angelegenheiten richtig, lässt sich heute im Durchschnitt jedes vierte Paar wieder scheiden.
Gründe für die Trennung eines Paares sind sehr unterschiedlich, aber viele sehen einen Zusammenhang mit der Einzelkind-Mentalität. “Der Grund für die hohe Scheidungsrate in dieser Gruppe ist, dass für sie nur ihre eigenen Interessen zählen und ihnen die Gefühle der anderen meist egal sind”, erklärt Sun Yunxiao, der stellvertretender Direktor des Chinesischen Jugend- und Kinderforschungszentrums im Interview mit dem Magazin Beijing Review. Die erhöhte Scheidungsrate könnte weiterhin ein Hinweis darauf sein, dass Scheidungen heute akzeptierter und “gesellschaftstauglicher” sind als noch vor 20 Jahren.
Es bleibt abzuwarten, was die Zukunft bringt. Die Ein-Kind-Politik hat eines definitiv erreicht: Sie hat Chinas Bevölkerungswachstum immens gebremst und dadurch ein neues Familienmodell geschaffen. Mit den sozialen Auswirkungen, die von Jahr zu Jahr sichtbarer werden, muss Chinas junge Generation wohl oder übel leben können.
In Teil 2 geht es weiter mit dem Problem der “Leftover-Männer”: als Folge der Ein-Kind-Politik hat China hat über 30 Millionen mehr Männer als Frauen.
Titelbild © Jasmin Oertel für sinonerds.