Blogs, Romane, Essaysammlungen, Filme, ein wenig Musik und schnelle Autos – Ein Versuch der Eingrenzung des intellektuellen Œuvres einer schillernden Figur in der Welt der chinesischen Literatur (und zwar ohne die Autos).
Der 1982 geborene Shanghaier Han Han 韩寒 ist der moderne Gegenentwurf zu einem klassischen Intellektuellen wie Zhou Zuoren. Es gibt Themen, über die sich engagierte Autoren immer den Kopf zerbrechen und lieber dreimal überlegen werden, ob sie sich mit ihnen befassen wollen; und es wird hoffentlich auch immer welche geben, die davor nicht zurückschrecken. Han Han ist der Sonderfall: Darf es vielleicht die Blog-Trilogie sein, in der er sich, ein Schulabbrecher, über heikle Themen wie Revolution, Demokratie oder Freiheit ergeht? Womöglich drängt es den Literaturliebhaber auch zu seinem Erstlingsroman (siehe unten). Das Werk wurde seit seinem Erscheinen im Jahr 2000 über zwei Millionen Mal verkauft, greift das chinesische Bildungswesen unbarmherzig an und gilt als Stein des Anstoßes für eine grundlegende Debatte über die Erziehung chinesischer Zöglinge.
Fast hyperaktiv sprengt der Romanautor, Essayist, Musiker und Regisseur Han Han mit quietschenden Reifen das Klischee des sturen Bücherwurms. Er tobt sich schier unermüdlich und mühelos in so vielen Genres aus, als dass selbst Autoren überregionaler deutscher Tageszeitungen ihre liebe Müh und Not haben, ihm eine klare Rolle zuzuschreiben.
Wie viele wissen, fährt er bisweilen recht erfolgreich Autorennen. Aber der Gedanke an den klassischen Schriftsteller in einem Rennwagen befremdet und soll an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden (nicht auszudenken, was passieren würde, würde jemand Lu Xun oder Zhou Zuoren hinter das Steuer eines Wagens des Subaru Rallye Teams setzen, jenes Rennstalls, für den Han Han zurzeit aktiv ist).
Daher sei dieses Hobby lediglich am Rande erwähnt, denn ja, auch dieser Artikel kostet einige Mühe, Tätigkeitsfelder und Profil Han Hans in das Korsett zweier Absätze zu zwängen. Rollt einer das literarische Feld Chinas chronologisch besehen von der anderen Seite auf, stellt somit Han Han das fulminante Gegenbeispiel eines Intellektuellen dar, der sich mitnichten in seinem Elfenbeinturm verschanzt.
Verzweifelte Etikettierung seitens deutscher Medien trifft auf erfolgreiche Selbstprofilierung des Autors
Es finden sich reichlich journalistische Versuche, einen Querschnitt seines Schaffens abzubilden. Doch die wenigen deutschen Medien, die sich vorzugsweise durch Porträts der Person Han Hans nähern wollen, tun sich schwer. Er wird ausgiebig etikettiert und während die überschaubare Anzahl der Texte zwar einen wunderbaren Überblick der Skandale liefert, in die Han Han im Laufe seiner noch jungen Karriere verwickelt war, reicht es kaum zu einer Bestandsaufnahme seines eigentlichen Œuvres. Sei sie noch so skizzenhaft angelegt, bleibt es bei den Ansätzen. Einem Leser renommierter Zeitschriften könnten die Redakteure zweifellos ein wenig mehr zutrauen.
Stattdessen ist er aber entweder “Der charmante böse Junge von Shanghai” (FAZ), “Der Spötter von Schanghai” (Neue Zürcher Zeitung) oder gar „Der Guttenberg in Shanghai“ (taz). Auf seinen immensen Erfolg wird dabei gerne geschaut und mit beeindruckenden Zahlen unterfüttert: So etwa 2 Millionen verkaufte Exemplare seines Debütromans, 300 Millionen Aufrufe des Blogs, ein Ansturm auf die Kinokassen nach Release seines Regiedebüts oder die Streitereien (Eifersüchteleien unter Bloggern) und Debatten bzw. Diskussionen (um das Erziehungswesen). Dem eigentlichen Inhalt der Filme, Bücher und Blogeinträge wird hingegen weniger nachgespürt.
In der Tat ist es nahezu unmöglich, sich ihm gebührend zu widmen. Ungeachtet der Gefahr, ebenfalls Schiffsbruch zu erleiden, widmen wir uns dennoch kurzerhand in dieser Reihe großen Veröffentlichungen Han Hans und lassen die Rennstrecken links liegen. In der Hoffnung, dass das illustre Profil des hochbegabten, kontrovers diskutierten Intellektuellen zum Vorschein kommt und dieses letzten Endes doch dem ein oder anderen einen Anlass bietet, “tiefer in die eine Richtung zu schürfen”, werden im Folgenden drei Werke aus Literatur, Film und Internet besprochen.
Han Han wetzt das autobiographische Messer: “Die dreifache Tür” 三重门 (Debütroman; 2000)
Was wie die spätpubertäre Erzählung eines Jugendlichen auf Sinnsuche im dritten Schuljahr ( 初三 chusan) beginnt, entwickelt sich zu einer ebenso subtilen wie auch beißenden Kritik am chinesischen Erziehungswesen. Aus der Sicht von Lin Yuxiang 林雨翔, Schüler einer Oberschule, setzt Han Han sein rhetorisches „Skalpell“ dort an, wo die Gesellschaft infolge der Bemühungen um die Restrukturierung des Bildungssystems besonders empfindsam geworden ist, will heißen: die zwischenmenschlichen Beziehungen junger Menschen in einer zunehmend institutionalisierten Leistungsgesellschaft.
Es darf getrost von einer semiautobiographischen Geschichte gesprochen werden, zumal der junge Lin in einer kleinen Stadt am Rande von Shanghai aufwächst. Weiß einer um die recht bescheidene Schullaufbahn des Autors, wird der Wirkung seines Erstlings im Nachhinein eine weitere elegante Nuance verliehen. Schreiend komisch werden die kleinen Alltagsprobleme und Konflikte des Schülers Lin miteinander verbunden. Diesen lässt er durch das chinesische Schulsystem hetzen; seine Eltern, die besorgt sind um die schulische Laufbahn des Sprösslings, doch ignorant gegenüber allem, zu dem sie ihn drängen, karikiert er:
„Lins Vater war einer, der die Bücher liebte. Bedauerlicherweise blieb es bei dieser Liebe. Lesen mochte er sie dann doch nicht. Zuhause lagerten einige tausend Bände, einzig um mit ihnen zu protzen. Im Alltag wurde nur recht selten einmal in einem gelesen.“
Lin Yuxiang wird schließlich mit dem Lehrer Ma Debao vertraut gemacht, der sich zu seinem lächerlich hilflosen Mentor aufschwingt und Lin zur verhängnisvollen Mitgliedschaft in einer literarischen Gesellschaft ermutigt. In etlichen Kapiteln entgleitet die Handlung aus dem normalen Alltagsgeschehen in skurrile Situationen und driftet in den trüben Schulalltag zurück, jedoch niemals ohne folgenschwere Veränderungen im Leben des armen Schülers hinterlassen zu haben. So folgt einer abendlichen Nachholstunde der Besuch eines Geisterhauses. Dieser mündet wiederum in der wüsten Mantou-Schlacht mit Schulabbrechern in einer Garküche und hat den Schulrauswurf Lin Yuxiangs Nachholstundenbekanntschaft zur Folge. Dialoge um Literatur und Liebe mit seinen Alters- und Liebesleidensgenossen spinnt Han Han mittels einer Vielzahl von Pseudoaphorismen bzw. Lebensweisheiten, derer sich Jugendliche so gerne bedienen, zu einer tatsächlich lebensklugen Erzählung.
Die Interaktion des einzelnen Schülers mit seinem Umfeld dient Han Han als probates Mittel, um das Erziehungswesen vorzuführen. Die Sozialstrukturen und das rigide Erziehungswesen, das bei sinonerds schon an anderer Stelle ausführlich beschrieben wurde, werden in ihrem Sinn und Zweck gründlich hinterfragt und kurzweilig am Leben Lin Yuxiangs in Szene gesetzt. Je länger der Held in Han Hans erstem Roman, von seinen Eltern erzogen und von der Grundschule über die Mittel- bis in die Oberstufe hinein in die Aufnahmeprüfung gejagt wird, desto offensichtlicher spürt der Leser die Maschinerie der noch jungen modernen Leistungsgesellschaft.
Der kongeniale Schulabbrecher und Literat Han Han, wenngleich ein recht erfolgreicher, setzt autobiografische Elemente humorvoll und selbstironisch ein. Lässt man ihn auf jene Tage zurückblicken, beschreibt Han Han diese als wichtige Phase seines Lebens, in der er „immens große praktische Erfahrung“ sammeln und seine schriftstellerischen Fähigkeiten entscheidend ausbauen konnte. Als er in einem Interview für sina.com mit der Frage konfrontiert wird, in welchem Maße autobiographisches Material dem Inhalt zugrunde liegt, windet er sich süffisant um eine eindeutige Antwort:
„Vor einigen Jahren wollten die Medien, dass ich doch mal Stellung zum Helden in „Die dreifache Tür“ beziehe. Ich möchte mich aber weder selbst loben, noch tadeln. Ein Roman ist eine sehr private Angelegenheit und es lassen sich gewiss einige persönliche Erfahrungen des Autors darin finden. Eben deswegen möchte ich darüber nicht groß sprechen.“
Sein Habitus und Umgang mit den Medien ist wohl auch einer der Hauptgründe dafür, dass die Lektüre seiner Texte so kurzweilig ist und der junge Autor selbst so sympathisch erscheint. Die Adressaten seiner Kritik bemerken teils erst Jahre später, dass ein Aufsatz, Essay oder ein Roman gegen sie gerichtet ist. Für eine weitere Beschäftigung mit Han Han und seiner Auseinandersetzung mit dem nationalen Erziehungssystems der VR seien zum Abschluss seine „Entwürfe für 2003“ (通稿 2003 tōng gǎo èr líng líng sān) wärmstens empfohlen. In den einzelnen Kapiteln widmet er sich noch offener und direkter den Problemen des Bildungssystems, benennt und arbeitet sie aus.
Han Han feierte letztes Jahr sein Regiedebüt auf dem chinesischen Festland. Da im Zuge der DVD-Veröffentlichung auch die Film-Community außerhalb der Volksrepublik in den Genuss des Streifens kommt und dieser auch auf deutschen Filmfestivals Anklang findet, ist es höchste Zeit über dessen Inhalt zu sprechen. Ob sich der Erfolg seiner Bücher auch auf seine Filme übertragen lässt, ist ihm definitiv zuzutrauen.
Bild von Han Han: (c) Wikimedia Commons: Han_Han_at_Hong_Kong_Book_Fair_3 [CC BY 2.0 ]