Die internationale Blase bietet vielen Expats in China Schutz und Bequemlichkeit. Aber was passiert, wenn man plötzlich auf sich alleine gestellt ist? Ein Plädoyer für die Beschäftigung mit der Kultur außerhalb der Blase.
Auf eigene Gefahr
Völlig ausgehungert saß ich im nächstbesten Restaurant in der Innenstadt von Tianjin und wartete auf mein Essen. Frittierte Hühnerbällchen, mein Leibgericht. Nein, ich konnte kein Chinesisch, aber das wollte ich unbedingt an der internationalen Schule lernen. Zum Glück gab es ja Bilder, mit denen ich der Bedienung zeigen konnte, was ich gerne essen wollte. Ich war mir nicht sicher, ob es sich überhaupt um Hühnerbällchen handelte, aber ich war schlau genug, um die Abbildungen mit dem Essen in chinesischen Restaurants in Deutschland zu kombinieren.
Dafür gab es eine Belohnung: Ich bekam genau das Gericht, was ich der Bedienung gezeigt hatte. Mit großem Hunger biss ich in ein Bällchen, doch schon wenige Augenblicke später lag es verpackt in meiner Serviette. Frittierte Knorpel? Vielleicht nur ein falsches Stück Hähnchen. Mit großer Enttäuschung stellte ich fest, dass die folgenden Bällchen genauso waren. Ich dachte, ich verstehe die Welt – oder besser gesagt, China – nicht mehr. Ich trank meine Cola aus und verließ das Restaurant hungrig. Diesen Kulturschock teilen wahrscheinlich viele „Greenhorns“ mit mir, deren Chinaerfahrung vielleicht kaum über ein chinesisches Restaurant in Deutschland hinausreicht.
Daran musste sich etwas ändern. Schließlich hatte ich noch zwei ganze Jahre vor mir, in denen ich bis zu meinem Schulabschluss nicht verhungern wollte.
Tianjin Bubble
Sehr schnell hatte ich meinen Zufluchtsort gefunden, die International School of Tianjin. Hier gab es Menschen von überall aus der Welt, die ähnliche Erfahrungen mit fremden Kulturen gemacht hatten. Ich befand mich in einer internationalen Community, die fast wie eine eigene Welt funktionierte. Es schien, als sei jede Kultur auf ihre eigene Art und Weise seltsam und dennoch besonders. Wir hatten eine Art Paralleluniversum geschaffen, in dem wir alle gleich waren.
Von Tipps über gute Restaurants, Cafés, Einkaufsläden bis hin zu guten Kinos bekam ich alles geboten. Um die Sprachbarriere zu brechen, hatte man entweder eine aufgeschriebene Adresse oder chinesische Mitschüler, die einen zu den Orten brachten. Manchmal reichte sogar ein kurzer Anruf und der chinesische Freund beschrieb dem Taxifahrer einfach den Ort, wo man hinwollte.
So einfach kann man in China und dennoch nicht in China leben. Die Blase, die um mich entstanden war, brachte mich nur sehr begrenzt mit der eigentlichen Kultur in Berührung. Dazu kam noch, dass man als weißer Ausländer ohnehin schon einen besonderen Status hatte. Doch ich war mit dieser Welt nicht zufrieden, ahnungslos, geführt von einzelnen Leuten von einem Ort zum anderen zu fahren.
Der Schlüssel
Wie so oft im Leben siegt die Bequemlichkeit; bis man ein Erlebnis hat, das diese vollkommen aufhebt. Ich stand mitten in Tianjin, nachts. Mein Telefon war aus und ich hatte keine Karte bei mir, die einem Taxifahrer hätte sagen können, wo ich hingehörte. Es fühlte sich ungefähr so an, als würde das Navi in einer fremden Stadt auf einmal ausfallen.
Was sollte ich tun? Ich war gezwungen, das bisschen Chinesisch, was ich in der Schule gelernt hatte, zu verwenden. Es belief sich hauptsächlich auf links, rechts und geradeaus. Ich fuhr also mit dem Taxifahrer eine gefühlte Ewigkeit, bis ich ein paar Gebäude wiedererkennen konnte, die in der Nähe von meinem Zuhause standen. Mir war klar, dass ich mich nicht mehr auf die internationale Community verlassen konnte und wollte.
Chinesisch spielte von nun an eine sehr zentrale Rolle in meinem Leben. Mit jedem Schritt, den ich aus der Tür wagte, verließ ich mich auf mein Sprachgefühl. Ich begann die Stadt plötzlich mit ganz anderen Augen zu sehen und bekam einen richtigen Einblick in die chinesische Kultur. So lernte ich das berühmte und begehrte „Tianjiner Frühstück“ kennen, was nach einer langen Nacht unverzichtbar wurde. Auf den Märkten aber auch im Taxi bekam ich bessere Preise, weil ich verstand, dass man über fast jeden Preis in China verhandeln kann. Es war, als hätte ich den Schlüssel zur verschlossenen Tür gefunden.
Titelbild: Gosawimui