Nicholas Tan, 23, wurde in Singapur geboren und zog mit seiner Familie nach Kanada, als er 13 Jahre alt war. Ich lernte Nicholas, oder besser: Nick, 2010 auf meiner ersten Reise nach Hongkong kennen, als er dort gerade ein 10-monatiges Praktikum an der Hongkong Baptist University absolvierte. Für sinonerds nahm er sich Zeit, um mit mir über Singapur, Hongkong und die Frage nach chinesischer Identität und chinesischen Werten zu sprechen.
sinonerds: Nick, du bist in Singapur geboren und hast den Großteil deiner Kindheit dort verbracht. Identifizierst du dich stark mit diesem Ort?
Nicholas Tan: Ja. Ich denke, dass es bei der Selbstidentifikation eine große Rolle spielt, wo man geboren ist. Meine Großeltern kamen zwar alle aus Guangdong, Südchina und sprachen Kantonesisch und Hokkien (eine Variante des aus Südchina stammenden Mi-Nan-Dialekts)… meine Eltern sind aber geborene Singapurer und sprechen hauptsächlich Englisch. Durch unseren Umzug nach Kanada habe ich aber gemerkt, wie weit fortgeschritten die Globalisierung ist und den direkten Bezug zu meiner geographischen Heimat verloren. Ich habe begonnen, mich stattdessen mehr mit meiner Familie zu identifizieren. Da diese jetzt in Kanada lebt, ist vor allem Kanada meine Heimat.
Was bedeutet es, ein Singapurer zu sein, im Unterschied zu einem Chinesen?
Singapurer sind die Englischsprecher Südostasiens und haben daher vor allem schon einmal eine ganz andere Verkehrssprache, als in China. Obwohl etwa 75 % der Menschen in Singapur chinesische Wurzeln haben, fühlen sich die meisten nicht mehr so sehr mit China verbunden und haben eine eigene Identität entwickelt. Trotzdem folgen wir den Traditionen Chinas, und vor allem das chinesische Neujahrsfest spielt eine große Rolle für uns. Aber oft habe ich das Gefühl, dass es dabei mehr um das gemeinsame Feiern geht, als um die Würdigung alter Traditionen.
Wie werden China und die Chinesen in Singapur wahrgenommen?
In Singapur ist der Gedanke an China als aufstrebende Wirtschaftsmacht sehr dominant. Singapur baute schon früh diplomatische Beziehungen zu Maos Volksrepublik auf und betreibt seitdem einen sehr intensiven Handel. Dass Singapur sich heute einen asiatischen Tiger nennen kann, hängt viel mit diesen wirtschaftlichen Aktivitäten zusammen. Die singapurische Bevölkerung kann sich aber, trotz ihrer engen kulturellen und wirtschaftlichen Verbindung mit China, nur wenig mit dem Land und den Chinesen identifizieren. Sie sehen China vor allem als einen sich noch in der Entwicklung befindenden Bruder, der noch einen weiten Weg vor sich hat, bevor er tatsächlich in der Zivilisation angekommen ist. Diese Wahrnehmung hat nicht unwesentlich mit der chinesischen Einwanderungswelle der 80er und 90er Jahre zu tun, als viele ungelernte Arbeiter nach Singapur kamen und das Bild des ungeschliffenen Chinesen verfestigten. Dieses Bild fängt jedoch an, sich allmählich zu wandeln, vor allem, da die chinesischen Einwanderer von heute wesentlich wohlhabender und gebildeterer sind, als ihre Vorgänger.
Mit welchen Aspekten der chinesischen Kultur kannst du dich identifizieren?
Zu den Dingen, mit denen ich mich am meisten identifizieren kann, gehört auf jeden Fall das Essen. In meiner Familie wird nämlich hauptsächlich Chinesisch gekocht. Reis, Nudeln, alles lecker. Meine Mutter liebt es, Suppe zu kochen, was eine typisch südchinesische Sache ist. Suppe mit Huhn oder verschiedensten Gemüsen, alles sehr traditionell. Ich höre auch gerne chinesische Musik, vor allem aus Taiwan, und ich feiere die chinesischen Feste, egal ob ich gerade in Kanada, Singapur oder Hongkong bin. Aber vor allem folge ich der chinesischen Kultur, indem ich bei meinen Eltern lebe… denn in vielen chinesischen Familien ist es üblich, dass man dort so lange lebt, bis man selbst arbeitet. Chinesische Eltern unterstützen ihre Kinder sehr intensiv, moralisch und finanziell, oft auch ein Leben lang. Außerdem bieten sie ihren Kindern ein Netzwerk, auf das diese zurückgreifen können. Da der Kollektivismus im chinesischen Kulturkreis eine wichtige Rolle spielt, wird innerhalb einer Familie viel geteilt. Damit kann ich mich gut identifizieren.
Glaubst du, dass es so etwas wie chinesische Werte gibt?
Ich bin mir sicher, dass es chinesische Werte gibt, und dass diese eng mit der Institution Familie verknüpft sind. Allerdings denke ich auch, dass diese Werte großen Dynamiken unterworfen sind – nicht nur durch chinesische Migrationen ins Ausland, sondern auch durch die Veränderungen der Lebensrealitäten in China selbst. Die kapitalistische Denkweise und der moderne Lebensstil in den Großstädten sorgen dafür, dass sich traditionelle Familienstrukturen lockern und mit ihnen die Werte, die dahinter stehen.
Du hast sowohl in Singapur als auch in Hongkong gelebt. Was sind deiner Meinung nach die Hauptunterschiede beider Orte in Bezug auf den Lebensstil und die Mentalität ihrer Bewohner?
Ich finde was den Lebensstil angeht, sehen sich beide Orte sehr ähnlich. Sowohl Singapur, als auch Hongkong gehören zu den weit entwickelten Ländern Asiens, und alles dreht sich um den Konsum. Arbeiten, Shopping und Essen definieren das Leben dort. Geschlafen wird wenig. Klima und Geographie beider Orte sind sich nicht unähnlich. Beide sind Inseln, auch wenn ein Teil Hongkongs auf dem chinesischen Festland liegt, und ihre Bewohner haben eine gewisse Inselmentalität. Die große wirtschaftliche Dynamik ist ein weiterer Faktor, der sowohl Singapur, als auch Hongkong prägt.
Was die Mentalität angeht, gibt es aber große Unterschiede. Ich finde, Menschen in Singapur haben eine westlichere Denkweise. Dies hat viel mit unseren Medien zu tun und der Tatsache, dass unsere Hauptverkehrssprache Englisch ist. Regeln und Gesetze werden extrem wichtig genommen und konsequent durchgesetzt. Von den Bürgern wird vor allem Gehorsam verlangt. Hongkong ist liberaler. Das politische System dort lässt Parteien zu und garantiert wesentliche Freiheiten, wie Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, usw. Allerdings hat Beijing die übergeordnete Kontrolle bei wichtigen politischen Entscheidungen – wirklich frei sind die Menschen dort also auch nicht. Hongkong ist mehr von China beeinflusst, und chinesische Traditionen und Feste werden hier besonders intensiv bewahrt und gefeiert. Auch die Tatsache, dass das Kantonesische als Verkehrssprache dominiert, lässt es chinesischer wirken.
Wie reagieren Hongkonger auf Menschen aus Singapur?
Ich hatte oft den Eindruck, dass hier ein Konkurrenzdenken existiert. Beide Orte sind wirtschaftlich sehr erfolgreich, und oft werden die Unterschiede betont, um sich von dem anderen abzuheben. Die Hongkonger sind sehr stolz auf ihr liberales System und machen sich gelegentlich über die Singapurer lustig: Ihr Singapurer dürft keinen Müll auf die Straße werfen, ihr dürft kein Kaugummi kauen, usw. Aber auch die Singapurer grenzen sich gerne ab und bezeichnen die Hongkonger als „roh“ und „ungeschliffen“, sowie als sehr „chinesisch“ – was in diesem Zusammenhang aber nicht als Kompliment gemeint ist. Was beide Orte nämlich eint, ist das Bedürfnis, sich strikt von China abzugrenzen.
Du hast fast dein halbes Leben in Kanada verbracht. Inwiefern hat das deine Identität beeinflusst?
Kanada ist eine multikulturelle Gesellschaft. Aber es gibt natürlich Unterschiede zwischen den „lokalen“ Leuten und den gerade Eingewanderten. Das Phänomen des frisch Eingewanderten bezeichnet man hier als Fresh-of-the-Boat, kurz FOB, und umfasst alle neuen Migranten, egal, ob sie aus Europa, Afrika oder Asien stammen. Als ich mit 13 Jahren mit meiner Familie nach Kanada gezogen bin, ist es meinen Mitschülern in der High School extrem schwer gefallen, mich einzuordnen. Natürlich gab es in der Schule niemanden sonst aus Singapur – die einzigen Gruppen, die annähernd meine Herkunft widerspiegelten, waren die Asian-Canadians (geborene Kanadier mit asiatischen Eltern) und die chinesischen FOBs. Ich habe mich keiner dieser Gruppen zugehörig gefühlt, hatte aber auch keine größere Identitätskrise, weil ich genau wusste, wer ich war und woher ich kam. Diese Krise kam erst viel später, als ich wieder in Asien war. Dort gab es einen „Holy Shit!“-Moment, als ich in Hongkong an einer Bahnstation stand und im Fenster eines Zuges mein Spiegelbild sah: Ein asiatischer Junge in Asien, der sich nicht asiatisch fühlte. Das war das erste Mal, dass ich ein echtes Gefühl der Verlorenheit hatte und meine Identität in Frage stellte. Als ich wieder zurück in Vancouver war, fand ich aber schnell wieder zu mir selbst und begann, mich als Canasian, als Canadian-Asian, zu sehen und stolz auf diese Identität zu sein. Ich empfinde meine neue Heimat, Kanada, als ein sehr tolerantes Land und bin auch stolz darauf, mich Kanadier nennen zu dürfen.
Du hast zwei Monate in Kopenhagen studiert und bist auch mehrmals in Europa gereist. Hast du irgendeinen Unterschied im Verhalten der Europäer gegenüber Asiaten wahrgenommen, im Vergleich zu deinen Erfahrungen in Kanada?
Auf jeden Fall. Man merkt sofort, dass die Menschen in Europa asiatischen Einflüssen weniger ausgesetzt sind, als in Nordamerika. Das hat sicherlich zum einen mit geographischen Aspekten zu tun – die amerikanische Westküste liegt ja deutlich näher an Ostasien, als Europa – aber auch mit der Tatsache, dass es in Amerika viel mehr asiatische Einwanderer gibt. Als ich das erste Mal in Europa war, habe ich gemerkt, dass einige Menschen schockierter waren, einen Asiaten vor sich zu sehen, als das in Nordamerika der Fall gewesen wäre. Vor allem die Tatsache, dass ich so gut Englisch spreche und sogar Muttersprachler bin, hat die Menschen verwirrt. Das passte einfach nicht zu ihrem Bild von einem Asiaten. Was für ein Weirdo, dachten die. Im Allgemeinen habe ich die Europäer aber als tolerant und akzeptanz-bereit erlebt. Da ich in Kopenhagen an einer internationalen Business-School studiert habe, hatte ich ja sowieso in erster Linie mit gebildeten und weltoffenen Menschen zu tun… und die sind wohl auf der ganzen Welt etwas toleranter, als die Durchschnittsbevölkerung.
Was mir in Europa auffällt, ist die Dynamik in Bezug auf asiatische Einflüsse. Ich habe den Eindruck, diese würden immer mehr zunehmen. Als ich letztes Jahr in Deutschland war, traute ich meinen Augen kaum, als es überall Bubble Tea zu kaufen gab!
Nick, was sind deine Ziele für die Zukunft?
(Lacht.) Eine sehr persönliche Frage. Aber ich werde sie beantworten. Mein langfristiges Ziel ist, eine internationale Schule zu gründen. Eine Schule, die der nächsten Generation hilft, zu verstehen, warum wir in einer Gesellschaft wie dieser leben und wie man Wirtschaft auf eine nachhaltigere Weise betreiben kann – vor allem auf globalem Level. Unsere globale Wirtschaft ist so vernetzt und doch herrscht so wenig interkulturelles Verständnis. Ich würde gerne jungen Menschen dabei helfen, sich auf andere Kulturen und Denkweisen einzulassen.
Gibt es einen chinesischen Wert, den du deinen zukünftigen Schüler/innen gerne vermitteln würdest?
Ich denke, da gibt es so einige. Aber der wichtigste von allen wäre: Respekt. Oberflächlich bedeutet das, sich den Älteren gegenüber respektvoll zu verhalten. Aber auf der tieferen Ebene bedeutet es auch, dass du dir selbst Respekt entgegenbringst – auch wenn du etwas tust, was andere dir sagen, oder um anderen zu helfen. Für mich ist „Respekt“ der Schlüsselwert im chinesischen Kulturkreis. Auch das Prinzip der Guanxi halte ich für wertvoll, weiterzugeben. Die engen Beziehungen, die man aufbaut, ob zu Familienmitgliedern oder Freunden, und auf die man sich komplett verlassen kann, egal, ob du reich oder arm bist, gesund oder krank. Auch, wenn diese Einstellung in Asien abzunehmen scheint, was ich sehr schade finde.
Vielen Dank für das Interview, Nick. Noch eine Frage zum Abschluss: Gibt es etwas, was du anderen jungen Menschen, die sich für die chinesische Kultur interessieren und eine professionelle Karriere einschlagen möchten, mit auf den Weg geben möchtest?
Mein Tipp für alle junge Menschen, die ins Ausland gehen, ist: Mach dich nicht kleiner als du bist. Die Tatsache, dass du bereit dazu bist, so einen abenteuerlichen Schritt zu wagen, sollte der Anfang sein, daran zu glauben, dass du mehr bist, als nur ein Student oder ein Praktikant – sondern ein angehender Professional, der in der Lage ist, die Welt zu verändern. Das Stigma, das wir heute haben, ist, dass wir nicht sehen, was wir selbst in uns tragen, sondern uns von der Gesellschaft diktieren lassen, wer wir sind. Der Moment, in dem wir damit aufhören, so zu denken, wie andere es von uns wollen, ist der Moment, in dem wir beginnen, wirklich zu leben.
Das Interview wurde von Jana auf Englisch durchgeführt und ins Deutsche übersetzt.