Am 21. August 2020, etwas über ein halbes Jahr nach dem Beginn des 77 Tage andauernden Lockdowns von Wuhan, veröffentlichte Ai Weiwei eine Dokumentation über das Leben in der abgeriegelten Millionenstadt. Das zum Teil mit Handykameras aufgenommene Filmmaterial stammt von gewöhnlichen Bürger:innen Wuhans, die diese unwirkliche Zeit vor Ort miterlebten. Trotz mehrerer tausend Kilometer Entfernung verfolgte auch die Autorin das Geschehen von Anfang an intensiv mit. Was Ai Weiwei, Regisseur und Produzent aus der Ferne, daraus gemacht hat, geht genauso tief, wie die Ereignisse selbst.
Die alte Normalität endet für mich an einem Dienstagabend. Ich stecke mitten in den Prüfungsvorbereitungen und schiebe nebenbei Spätschichten in einer Fabrik. Wenn ich dort Feierabend habe, ist der letzte Bus längst weg, weshalb ich auch an diesem Tag ein Sammeltaxi bestellt habe. Der Fahrer weiß inzwischen, dass ich Sinologie studiere und begrüßt mich halb scherzend und halb drohend mit der Frage: „Du warst über Weihnachten aber nicht in China, oder?“ Ich schaffe es nicht mehr, seine Aussagen über „irgend so ein Coronavirus“ zu verifizieren, bevor das Auto im Funkloch verschwindet. Zu Hause angekommen lese ich dann alles, was ich finden kann, und ich würde meine Abschlussprüfung zweifellos ausgeruhter ablegen, wenn ich mich von da an weniger mit der beginnenden Covid-19-Pandemie beschäftigte.
Doch ich kann nicht anders. Die Berichte aus Wuhan gehen mir von Anfang an nahe. Mein Herz pocht, als die Abriegelung der gesamten Stadt bekanntgegeben wird. Ich bekomme Gänsehaut und Tränen steigen mir in die Augen, als ich auf Instagram ein in einer Hochhaussiedlung aufgenommenes Handyvideo sehe. Hunderte Stimmen sind darin zu hören, die gemeinsam aus den Fenstern singen und im Chor „Wǔhàn jiāyóu 武汉加油!“ (sinngemäß: „Bleib‘ stark, Wuhan!“) in die Nacht hinausrufen, um sich gegenseitig Mut zu machen. Eine Mischung aus Traurigkeit und Wut ergreift mich, als ich die Meldung vom Tod des jungen Arztes Li Wenliang lese, der früh vor dem Virus gewarnt und dafür von den Behörden eine Ermahnung kassiert hatte. Am 1. Februar werden erstmals deutsche Staatsangehörige und deren Familienmitglieder ins vermeintlich sichere Deutschland evakuiert, ausgeflogen von der Bundeswehr aus der „Coronavirus-Provinz Hubei“. (Das ist kein Trump-Zitat, sondern war so auf tagesschau.de zu lesen.) Ich spüre einen Kloß im Hals, als ich daran denke, dass auch mein Schwiegervater zu all den Menschen zählt, die nicht einfach aus den betroffenen Gebieten abheben können.
In diese beklemmende, verstörende Welt des frühen Jahres 2020 holt Ai Weiwei uns mit Coronation für 113 Minuten zurück. Begleitet von wummernden Beats bewegen wir uns in fahlem Tageslicht über eine Stadt der Leere und des Stillstands. Aus der Vogelperspektive sehen wir die Blaulichter dutzender Rettungswagen, die vor einer Klinik die Nacht durchzucken. Später überzieht eine dünne Schneeschicht die Skyline von Wuhan und perfektioniert die Trostlosigkeit des winterlichen Lockdowns.
Auf die beeindruckenden Drohnenaufnahmen folgen Szenen, die SPIEGEL-Rezensent Wolfgang Höbel als banal und „einfach sterbenslangweilig“ beschreibt: Tote Fische im Aquarium eines Paares, das nach dem Neujahrsfest und anschließender Selbstisolation nach Wuhan zurückkehrt. Ein Arzt, der durch niedrige, nicht enden wollende Krankenhausgänge geht und dabei ausgerüstet mit Maske, Schutzbrille, Kopfhaube und Rucksack ein wenig an einen Taucher auf einem Schiff erinnert. Und die vielen Schläuche, hinter denen sich blasse Gesichter mit ausdruckslosen Augen kaum von der weißen Bettwäsche abheben. Ich bin nicht gelangweilt, stattdessen fällt mir die Nachricht einer Freundin wieder ein, die das Geschehen in Wuhan von Harbin aus verfolgte: „Ich habe wirklich Angst vor dem Virus. Sie sagen, am Ende fühlt es sich an, als würde man ertrinken.“
Um die Schwerkranken herum strahlt das Krankenhauspersonal Ruhe und Routiniertheit aus. Wir erfahren, wie aufwändig und zeitintensiv das ordnungsgemäße Anlegen, Ausziehen und Entsorgen von Schutzanzügen ist. Ich frage mich, wie viele Nerven mich allein diese Vorgänge kosten würden, und denke an den Applaus, den Pflegekräfte auf der ganzen Welt bekommen, während die meisten von ihnen immer noch auf eine Bezahlung warten, die diese Dankbarkeit widerspiegelt. Auch Ai Weiwei zeigt das Klatschen für die Helfenden – in einer Szene, die laut Höbel auch aus dem chinesischen Staatsfernsehen stammen könnte. Der Kontext ist in CoroNation jedoch ein anderer. Die Glorifizierung ist hier nur ein kleiner Teil des anstrengenden Alltags.
Zurück in den stillen Straßen bekommen wir einen Einblick in die ebenfalls erschwerte Arbeit eines Lieferdienstmitarbeiters, der riesige Mengen von Lebensmittelbestellungen transportiert, sortiert und unter den Toren abgeriegelter Wohnsiedlung durchreicht. Dann geht es unter die Erde. Hier lebt Meng Liang in einer schlecht beleuchteten Tiefgarage aus seinem Auto. Der junge Mann aus Henan hatte auf der Baustelle des Huoshenshan-Notkrankenhauses geschuftet und wird seit der Fertigstellung des Projekts an der Rückkehr in seine Heimatstadt gehindert, während in Wuhan niemand mehr für ihn zuständig zu sein scheint.
Schließlich kommen auch Menschen zu Wort, deren Angehörige sich mit Covid-19 infizierten und starben. Weil sie sich auf die anfänglichen Behauptungen der Behörden verlassen hatten, das Virus sei nicht von Mensch zu Mensch übertragbar, wie ein trauernder Sohn berichtet: „Ich wusste nicht, wie die Lage wirklich war, und schickte meinen Vater nach Wuhan zurück. Auf diese Weise wurde er zum Opfer. [Die Beamten] haben ihn getötet.” Oder weil der Versuch, einen Platz in einem Krankenhaus zu bekommen, zur Odyssee durch Wuhan wurde, bei der entscheidende Zeit verloren ging. „Der Tod meines Schwiegervaters war ungerecht. Wir suchten überall nach Hilfe, doch niemand half uns. […] Er starb am Missmanagement der Regierung“, beklagt eine junge Frau. Dass andernorts „Patient:innen“ trotz wiederholter negativer Tests wochenlang im Krankenhaus festgehalten werden, erfahren wir ebenfalls aus Interviews mit Betroffenen. Für sie steht fest: „Sie benutzen uns, um die Sterberate zu senken!“
Zum Ende des Films, als es in Wuhan schon Frühling geworden ist, machen die Hinterbliebenen sich auf, um die Asche ihrer Verstorbenen an sich zu nehmen und zu beerdigen – in fremder Begleitung. Denn um zu verhindern, dass sich Trauer, Wut und Verbitterung in Protesten entladen, wird dafür gesorgt, dass die Abholung der Urnen nur im Beisein von Regierungsbeamt:innen stattfindet.
In den großen Feuilletons und Kultursendungen wurde zuletzt darüber gestritten, ob die Dokumentation nun Unterdrückung und soziale Kontrolle im Kampf der chinesischen Regierung gegen das Virus anprangert oder, ganz untypisch für Ai, frei von Vorwürfen ist und lediglich beobachtet. Im Gespräch mit der New York Times stellte Ai Weiwei klar, dass der Film von China und dem Lockdown handele, dabei aber wiederzugeben versuche, was die einfachen Leute durchmachen mussten. Und das zu zeigen, ist bereits Übung von Systemkritik. Denn der Alltag und das Schicksal der einfachen Leute sind geprägt von gesellschaftlichen Schieflagen und administrativem Versagen – nicht nur in China, wie in den vergangenen Monaten deutlich wurde – und von politischen Entscheidungen, die mehr dem Erhalt von Macht, als dem von Menschenleben dienen. Folglich ist es Ai Weiwei gelungen, neben der von ihm erwarteten Kritik an der Kommunistischen Partei eine Botschaft in sein Werk einfließen zu lassen, die sich auch Politiker:innen außerhalb Chinas zu Herzen nehmen sollten: „Schätzt die Menschen wert, ohne deren harte Arbeit und Risikobereitschaft das System zusammenbrechen würde! Vergesst die Opfer der Pandemie und deren Familien nicht!“ Sie alle sind es, die der Künstler in den Mittelpunkt stellt, während er selbst diesmal überhaupt nicht vorkommt, und allein für sie lohnt es sich, den Film anzuschauen.
Außerdem kann CoroNation noch mehr, als Missstände sichtbar und unübersehbar zu machen – was ja auch die Coronakrise selbst tut. Was der Film vor allem schafft, ist Nähe. Er besitzt das Potenzial, in den Köpfen seines westlichen Publikums aus einem weit entfernten, bis vor kurzem völlig unbekannten Ursprungsort der Pandemie endlich eine Stadt voller Menschen zu machen. Voller Menschen, die in Angst und Sorge lebten, unter den Folgen des Lockdowns litten, Tag und Nacht bis zur Erschöpfung arbeiteten, verzweifelten, Eltern, Kinder, Partner:innen und Geschwister verloren, sich im Stich gelassen fühlten, Einsamkeit ertrugen, Schmerz empfanden, aber auch versuchten, die Zeit zu Hause so unterhaltsam wie möglich zu gestalten, den Humor nicht verloren – und gemeinsam durch diese schweren Wochen und Monate gingen.
sinonerds-Literaturtipp
Die Schriftstellerin Fang Fang hat während des Lockdowns in Wuhan ein Online-Tagebuch geschrieben, das inzwischen auch in deutscher Übersetzung in Buchform veröffentlicht wurde: “Wuhan Diary – Tagebuch aus einer gesperrten Stadt”. Mehr über den Entstehungsprozess des Buches und die Kontroversen, die es ausgelöst hat, erfahrt ihr im Sinica Podcast Interview mit dem Übersetzer der englischen Ausgabe, Michael Berry.
Titelbild “Wuhan | Guangzhou on sealpool” sowie weiteres Bild “Chongqing – Wuhan / 重庆到武汉 (2)” von Tauno Tõhk via flickr, shared under CC licenses (1) bzw. (2).