Die Digitalisierung des Alltags in China und Taiwan hält nicht nur locker mit dem mit, was wir in Deutschland erleben, sondern könnte auch ein globaler Trendsetter sein. Aber welche Entwicklungen gibt es genau und was bedeuten sie für uns? Drei Erkenntnisse, die wir in unserem diesjährigen Spotlight zum digitalen Leben gewonnen haben.
Willkommen im 21. Jahrhundert: die winzige Kamera eines Smartphones schießt Fotos, deren fantastische Pixelzahl gestochen scharf riesige Plakate in der Bahnhofshalle füllt. Verglichen mit 4G hangelt sich der Supercomputer von vorgestern wie ein Faultier durchs Internet. Wenn es noch eine Grenze zwischen dem „echten Leben“ und der digitalen Welt gibt, dann wohl nur, wenn wir sie bewusst herstellen. Auch in der Sinospähre verschwimmt diese Grenze immer mehr. In unserem Spotlight sind wir auf drei Bereiche gestoßen, die das besonders deutlich machen.
Big Brother guckt zu – na und?
Mit der Einführung des Cybersecurity-Gesetzes versucht die chinesische Regierung das Internet so zu modifizieren, dass sie allein das Sagen hat. Jost beschreibt, wie schwammige Regulierungen über die Einhaltung von „core socialist values“ oder „respect for social moralities“ letztendlich bedeuten, dass die Behörden einen Fall so auslegen können wie es ihnen beliebt. Alles, was die staatliche Harmonie verhageln könnte, kann also als illegal eingestuft werden. Das Social-Credit-System, das momentan noch getestet wird aber bald landesweit eingeführt werden dürfte, soll durch die Auswertung einer gewaltigen Sammlung von Daten das Verhalten chinesischer Bürger im großen Stil überprüfen. Je nach dem Punktestand vergibt das System entweder Belohnungen oder Nachteile – für manche könnte die Fernsehserie Black Mirror ein gruseliges Beispiel bieten.
Bei der Internetregulierung packt China seit jeher fest zu und wird daran auch in absehbarer Zeit nichts ändern. Vielleicht gerade weil die Zensur so zur Normalität gehört, gehen viele ChinesInnen damit locker um: wie Johannes in seinem Artikel feststellt, wird die Zensur weitgehend akzeptiert oder toleriert. Chinas moderne Internetdienste tun das ihrige, um diese Gleichung aufgehen zu lassen. Zwar sind „unbegrenzte Möglichkeiten“ grundsätzlich ausgeschlossen, aber jenseits politischer Inhalte kommt das Online-Angebot nahe daran.
Ein Klick für alle Fälle
In China ist das Handy zur Schaltzentrale im Alltag geworden. Vom Baozi-Stand an der Ecke über den Taxidienst bis zum Frisörtermin lässt sich alles per App bestellen und bezahlen. In unserem Tutorial zum Singles’ Day könnt ihr nachlesen, warum die Einkaufsplattform Taobao seinen westlichen Cousins um Längen voraus ist und in China für jede Zielgruppe zum Laden des Vertrauens wurde.
In vieler Hinsicht kommt das chinesische Internet den Wünschen der Verbraucher entgegen. Die Vermischung der physischen und digitalen Welt ist dabei eine spürbare Realität: allein durch die vielen Lieferdienste verändern sich in den Städten der Verkehr und die Alltagsgewohnheiten. Auch tun sich neue Probleme auf, die vorher in dieser Intensität nicht existierten. Warum noch um den Block gehen, wenn das Essen auch minutenschnell zu mir in die Wohnung kommt? Was passiert mit dem vielen Verpackungs- und Einwegmaterial, das durch Lieferdienste unweigerlich entsteht? Mit diesen Fragen und den gesellschaftlichen Auswirkungen muss sich Chinas Regierung beschäftigen; womöglich hat sie gar die Chance, auch für andere Orte zukunftsweisende Lösungen zu finden.
Online spielt die Musik
Unsere dritte Erkenntnis betrifft den ungeheuren beschäftigungs- und identitätsstiftenden Stellenwert, den das digitale Leben in China und Taiwan hat. Eine kleine Kostprobe geben Jasmins Kurzinterviews, in denen junge TaiwanerInnen beschreiben welche Rolle das Smartphone in ihrem Leben einnimmt. Obgleich weit von einer repräsentativen Umfrage entfernt, zeigen diese Meinungen doch in eine Richtung, die sich auch mit größeren Trends belegen lässt. Das Online-Game League of Legends und sein Handy-Ableger 王者荣耀 (King of Glory) sind in China derart eingeschlagen, dass der Betreiber des letzteren Tencent sich gezwungen sah, nach einer begrenzten Spielzeit eine automatische Sperre einzubauen. Zuvor hatten sich einige Nutzer krankenhausreif gezockt.
Einen Hang zum Extremen haben auch Videos, in denen sich Menschen selbst zur Schau stellen und dafür manchmal auch bezahlt werden. Mit der App 17 直播 (Broadcasting 17) kann man zum Beispiel Fremden dabei zugucken, wie sie riesige Mengen essen. In diesem Monat ist ein “rooftopper”, der mit seiner selbstinszenierten Hochhaus-Kraxelei nebenbei Geld verdiente, bei einem besonders riskanten Stunt in Changsha in seinen Tod gestürzt. Abseits dieser mehr als fragwürdigen Exzesse wächst allerdings eine beachtliche Bandbreite an Videos heran, die nicht nur unterhaltsam, sondern oft auch lehrreich sind. Ein paar unserer Lieblings-Vlogs hat Karo für euch zusammengestellt.
Insgesamt ist das chinesische Internet wohl vergleichbar mit einem mythologischen Ungeheuer: es strahlt Bedrohlichkeit und Faszination mit etwa der gleichen, beeindruckenden Wattzahl aus. Obwohl in der Saga schon düstere Wolken aufgezogen sind, stehen noch einige Kapitel aus; nicht zuletzt ist es jeder und jedem von uns möglich, das Internet nach unserem Geschmack mit zu gestalten. Ohne Zweifel wird das digitale Leben im 21. Jahrhundert ein Abenteuer bleiben.
Image credit: “Reflexions of Tunxi Town: Yellow Friend” and “Cage of Wonders” by Momentchensammler shared under a Creative Commons (BY) license.