Outlier Linguistics in Taipeh ist ein Team von Forschern, das ein neues, mehrsprachiges Lexikon chinesischer Schriftzeichen entwickelt. Mit ihrem Konzept zum Erlernen der Zeichen, das moderne Lerntechniken mit fundiertem linguistischem Wissen paaren will, könnte für angehende und langjährige sinonerds zum echten Schatz werden. Nachdem das Start-up über Kickstarter erfolgreich Geld eingesammelt hat, geht ihr “Outlier Dictionary of Chinese Characters” im Mai 2016 an die Öffentlichkeit.
Für sinonerds macht Christian Schmidt, Mitgründer von Outlier Linguistics, in seiner Reihe “Wie man ein Zeichen korrekt lernt” deutlich, wie das System hinter dem Outlier-Konzept funktioniert:
In dieser dreiteiligen Reihe zeige ich anhand des Beispiels 堂 táng, wie ich ein chinesisches Zeichen korrekt lerne. Ich werde dabei keine Mühen scheuen und sehr ausführlich vorgehen. Mein Ziel ist, dass Anfänger und Fortgeschrittene gleichermaßen mit einem praktischen Workflow arbeiten können. Um gleich eine Sorge vorwegzunehmen: Was zunächst umständlich erscheinen mag, wird mit der Zeit zur Routine. Viele Schritte, die ich hier explizit erwähne, gehen irgendwann in Fleisch und Blut über.
Systembeziehungen / Herleitungen von Unbekannten
Wenn ich ein chinesisches Zeichen lerne, will ich wissen, wie das Zeichen an sich aufgebaut ist. Das habe ich im ersten Teil dieser Reihe gezeigt, indem ich eine Komponentenanalyse durchgeführt habe. Das ist nichts anderes, als Form, Bedeutung und Aussprache des Zeichens mit der Form, Bedeutung und Aussprache jeder seiner Komponenten zu vergleichen.
Aber ich will effektiv lernen. Deswegen will ich wissen, was ich mit meinem neugewonnen Wissen über dieses eine Zeichen noch alles machen kann. Gibt es nicht noch andere Zeichen, die genauso funktionieren wie 堂? Denn dann müsste ich nicht den ganzen Aufwand für jedes neue Zeichen erneut betreiben!
Chinesische Zeichen bilden ein System. Es ist tatsächlich so, dass es Ähnlichkeiten und funktionale Gemeinsamkeiten zwischen den Zeichen gibt, und zwar vorallem phonetische und semantische Ähnlichkeiten. Ich kann also Aussprachen vergleichen, genauso wie Bedeutungen. Und in beiden Fällen gibt es eine ganze Reihe von Regeln, die mir helfen, diese Ähnlichkeiten zu sehen.
Ganz wichtig: die hier vorgeschlagenen Vorgehensweisen ersetzen keine rigorose sprachhistorische, wissenschaftliche Analyse, wie wir sie in unserem etymologischen Lexikon durchführen. Die Anleitungen hier sind nur als kleine praktische Hilfestellungen für Lernende gedacht, die mit einfachen Methoden ihre Lernergebnisse verbessern wollen.
Phonetische Systemähnlichkeiten
Schauen wir zuerst auf die phonetischen Systemähnlichkeiten. Weil ich jetzt weiß, dass 尚 shàng im Zeichen 堂 táng die Funktion einer Lautkomponente hat, interessiert es mich einfach, ob es nicht noch andere Zeichen gibt, die auch 尚 shàng als Lautkomponente enthalten. Und wenn ja, dann muss ich für diese ganze Reihe von Zeichen nicht nochmal die ganze Prozedur von Komponentenanalyse durchmachen. Ich kann somit vielleicht fünf oder zehn oder sogar noch mehr Zeichen auf einmal lernen, richtig analysiert und richtig nach Funktion sortiert. Besser geht’s eigentlich nicht. Also, wie macht man das?
Schritt 1: Ich suche Zeichen, die die Aussprache „shang“ oder „tang“ haben und schaue, ob diese Zeichen auch die Komponente 尚 enthalten.
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Ich benutze dafür entweder Pleco (für iOS/iPhone), Wenlin (für Windows/Mac) oder ein klassisches Wörterbuch auf Papier (siehe Lexika).
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In Pleco: ich tippe Pinyin tang (ohne Ton) in die Suchleiste ein und scrolle durch die Suchergebnisse durch. Ich suche Zeichen, die auch 尚 enthalten und tang ausgesprochen werden. Ich finde 趟, 淌, 躺. Jetzt wiederhole ich den Vorgang und suche mit Pinyin shang: 賞, 裳, 埫, 緔. Die letzten beiden Zeichen kenne ich nicht. Ist mir aber jetzt egal, denn es geht nur um die Aussprache.
Ich ziehe die Schlussfolgerung, dass in all diesen Zeichen 尚 sehr wahrscheinlich als Lautkomponente funktioniert, aber ich bin mir noch nicht sicher. Also schaue ich noch schnell, ob in den gerade gefundenen Zeichen die anderen Komponenten typische Formkomponenten sind, wie z.B. 走 für „gehen” in 趟; 氵für „Wasser“ in 淌 tǎng; 貝 für „Wertvolles” in 賞; 衣 für „Kleidung“ in 裳; 土 für „Erde, Boden“ in 埫; 糸 für „Stoff“ in 緔. Wenn ja, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass meine oberflächliche Analyse richtig war. Denn es ist unwahrscheinlich (aber nicht unmöglich), dass ein Zeichen zwei Lautkomponenten, aber keine semantische Komponenten enthält. Sobald ich also eine Lautkomponente sehe, schaue ich, ob auch eine typische semantische Komponente in der Nähe steht.
Natürlich gibt es auch viele Fälle, in denen eine Komponente im gleichen Zeichen sowohl semantische als auch phonetische Funktion ausübt. Für eine unprofessionelle, oberflächliche Pi mal Daumen Einordnung reicht das aber allemal. Wer ganz sicher gehen will, dem empfehle ich, ein etymologisches Schriftzeichenlexikon zur Hilfe zu nehmen. Leider gibt es viel zu viele Zeichen, in denen die moderne Form uns täuscht.
Schritt 2: Suche nach anderen Zeichen, die auch shang enthalten, und vergleiche ihre Aussprache
In Schritt 1 konnte ich sieben Zeichen finden, die 尚 shàng als Lautkomponente enthalten. Aber es geht noch effektiver. Ich weiß von meiner Lautformel, dass die chinesischen Laute „t“ und „d“ in der selben Stelle im Mund artikuliert werden. Nun, das werden sie auch im Deutschen. Das gleiche gilt für „zh, ch und sh“. Weil 尚 shàng die Aussprache 堂 táng anzeigen kann, liegt es nahe anzunehmen, dass auch alle anderen Laute in den beiden Gruppen untereinander genauso verwendet werden können. Und daher finde ich plötzlich nicht nur sieben Zeichen sondern 18:
當 dāng, 党 dǎng, 瓽 dàng, 堂 táng, 躺 tǎng, 趟 tàng, 淌 tǎng, 掌 zhǎng, 鞝 shàng, 常 cháng, 嘗 cháng, 裳 cháng, 徜 cháng, 敞 chǎng, 倘 tǎng, 惝 chǎng, 賞 shǎng, 緔 shàng.
Wichtig ist: Für diesen Schritt ist es nicht notwendig, die gefundenen Zeichen alle zu kennen. Denn wir vergleichen nur die Komponente 尚 shàng mit der Aussprache des jeweiligen Gesamtzeichens. Es ist wahrscheinlich, dass jedes dieser Zeichen 尚 als Lautkomponente enthält. Man müsste in ein etymologisches Lexikon schauen, um es wirklich für jedes Zeichen sicher sagen zu können.
Semantische Systemähnlichkeiten
Was für die phonetischen Beziehungen zwischen den Zeichen gilt, ist auch für die semantischen funktionalen Gemeinsamkeiten wahr. Weil ich weiß, dass 土 tŭ in 堂 táng eine semantische Funktion hat – es bringt als Formkomponente seine bildliche Bedeutung ein –, daher interessiert mich, ob das auch für andere Zeichen gilt, und wenn ja, für welche.
Ich kann hier die gleiche Such- und Vergleichstechnik anwenden wie auch für phonetische Komponenten.
Schritt 1: Ich suche Zeichen, die die Komponente „土“ enthalten, und vergleiche die Bedeutung des Zeichens mit der Formbedeutung der Komponente.
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Ich benutze dafür entweder Pleco (für iOS/iPhone), Wenlin (für Windows/Mac) oder ein klassisches Wörterbuch.
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In Pleco: ich tippe das Zeichen 土 in die Suchleiste ein und gehe auf den Chars (Character) Tab. Hier gehe ich zur Sektion Compounds, also zusammengesetzte Zeichen, und scrolle durch die Suchergebnisse.
Anmerkung:
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Wenn ich ein Wörterbuch auf Papier vor mir habe, dann kann ich Zeichen unter dem Radikal 土 suchen, wohlwissend, dass Radikal nicht gleich Formkomponente ist. Ich erfasse ganz sicherlich viele Zeichen nicht, die 土 tŭ als Formkomponente enthalten, weil sie nicht unter dem Radikal 土tŭ sondern unter einem anderen Radikal gelistet sind, z.B. fällt mit dieser Methode 土 tŭ in 社 shè durchs Netz, weil 社 unter dem Radikal 示 gelistet ist und eben nicht unter 土 tŭ. Dieses Beispiel zeigt nebenbei, dass Radikale nichts mit der Bedeutung der Zeichen zu tun haben, sondern eben willkürlich gewählt sind.
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Ein Radikal zu sein, ist nur eine Rolle, die einer Komponente zugewiesen wird. Das Radikal dient nur der Auffindung in Wörterbüchern, damals noch in Papierform. Wichtig für uns sind aber die vier verschiedenen Arten von funktionalen Komponenten. Erst wenn Zeichen in einem Wörterbuch geordnet werden sollen, ordnen die Herausgeber jedes Zeichen einem Radikal zu, als beigeordnetes Ordnungszeichen. Diese Wahl des Radikals wird also nachträglich getroffen, ein Radikal ist nicht inhärenter Teil eines Schriftzeichens. Viele Wörterbücher unterscheiden sich sogar oft in der Wahl des Radikals für ein bestimmtes Zeichen.
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Beispiel: in Pleco finde ich unter 土 tŭ die folgenden Compounds: 在 zài, 時 shí, 到 dào, 地 dì, 動 dòng, 法 fǎ, 理 lǐ (als Beispiel reichen diese Zeichen).
Achtung: in 時, 到, 動, 法 und 理 erscheint 土 tŭ, wenn überhaupt, dann nicht als größtmögliche Komponente sondern als Bestandteil einer Komponente, z.B. 土 erscheint als Teil von 寺 sì in 時 shí. Streng genommen sagt das nichts, weil Zeichen auch mehrere Formkomponenten enthalten können, zum Teil sogar verfälschte, die man gar nicht mehr als solche erkennt. Aber für unseren praktischen Do-It-Yourself Systemcheck schließen wir jetzt einfach aus, dass土 tŭ in einer zusammengesetzten Form, wie z.B. 寺 erscheinen darf, um trotzdem noch Formkomponente zu sein. Anders gesagt, für unsere Schnell-Check-Methode muss gelten, dass 土 tŭ als alleinstehende (größtmögliche) Komponente erscheinen muss. Damit fallen 時 und 到 weg, denn in 時 shí ist 土 Teil von 寺 sì, in 到 dào ist 土 Teil von 至 zhì. 土 ist in diesen Zeichen also keine eigenständige funktionale Komponente.
In 動, 法 und 理 erkenne ich überhaupt kein 土, ich sehe stattdessen 重 zhòng, 去 qù und 里 lǐ. Für unsere unwissenschaftliche Oberflächenanalyse reicht das erst einmal, um zu sagen: auch hier ist 土 also keine eigenständige funktionale Komponente.
Übrig bleiben nun 在 zài und 地 dì. Hier sehen wir nun, wie oft wir von der modernen Form in die Irre geführt werden können. Denn auch 在 enthielt ursprünglich gar kein 土, sondern war eine Kombination aus 才 cái und 士 shì. Diesen historischen Entwicklungsprozess, an dessen Ende die ursprünglichen Teile eines Zeichens nicht mehr zu erkennen sind, nennen wir Verfälschung. Daher sei nochmals betont, der hier vorgestellte Schnellcheck auf Systemebene ersetzt nicht die Systemerklärungen, die wir in unserem Lexikon aufzeigen. Dort zeigen wir klipp und klar, welche Komponenten wirklich so sind, wie sie scheinen und wofür wir sie auf den ersten Blick halten; und auch, welche Komponenten verfälscht wurden und heute keine Bedeutung oder Aussprache angeben sondern uns nur auf eine falsche Fährte führen.
Ergebnis: es bleibt nun alleine noch 地 übrig.
- 地 dì Erde, Grund
- 土 tŭ Bildlichkeit von Erde, Erdhaufen
- 也 yě ich weiß von meiner Lautformel, dass das eine trickreiche (= schwer erkennbare) Lautkomponente ist
Ich sehe sofort, dass die Form „Erde, Erdhaufen“ ganz klar zur Wortbedeutung „Erde, Grund“ passt. Damit habe ich neben 堂 táng noch ein weiteres Zeichen gefunden, in dem 土 tŭ als Formkomponente fungiert.
Für Lernende ist die Systemebene nicht unbedingt schwer zu erkennen, aber leider nur schwer selbst zu überprüfen. Man benötigt ein großes linguistisches Spezialwissen, um mit Sicherheit sagen zu können, welche Komponente in einem Zeichen wirklich eine Funktion hat. Stellen Experten solche Informationen zusammen, wo aufgelistet wird in welchen Zeichen 土 tŭ als Formkomponente erscheint, in welchen Zeichen 土 tŭ als Lautkomponente erscheint und in welchen Zeichen 土 tŭ als Leere Komponente auftritt, dann kann jeder ganz einfach nach Funktionen geordnet die Zeichen systematisch lernen und die Funktionen nachvollziehen.
Memotechnik
Eine gute Memotechnik ist oft die Geheimwaffe von Menschen, die Sprachen erfolgreich lernen. Memotechniken können sehr effektiv sein, wenn sie konsequent aufgebaut sind. Außerdem müssen sie klare Regeln haben, wie eine Information abgespeichert und wie wieder abgerufen wird.
Es kommt, wie so oft, auch bei der Memotechnik darauf an, wie man es macht.
Beispiel:
Angenommen wir benutzen eine bestimmte Methode, aber füttern sie mit zwei Arten von Komponenten:
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mit nicht-funktionalen, willkürlich gewählten Komponenten wie ⺌, 冂, 口 und 土.
Ich müsste mir bei dieser Variante nicht nur mehr Objekte merken, auch wüsste ich nicht, warum diese Objekte eigentlich enthalten sind und müsste eine willkürliche Geschichte erfinden, um mir das Zusammenspiel dieser vier Objekte zu merken.
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mit den funktionalen Komponenten: 尚 und 土.
Hier muss ich mir anstelle von vier nur zwei Objekte merken. Und ich weiß auch, warum diese Komponenten enthalten sind, nämlich weil sie im Zeichen unterschiedliche Funktionen haben: 尚 gibt den Laut an, 土 trägt mit seiner Form zur Bedeutung des Zeichens bei. Damit kann ich mir sehr einfach zwei klare Memoregeln bilden, denn ich kenne bereits entscheidene Eigenschaften dieser zwei funktionalen Komponenten. Und da die Formkomponente 土seine Bildlichkeit beiträgt, kann man sich dieses Bild und den Zusammenhang zum ganzen Zeichen gut merken. Lernt man noch weitere Zeichen mit der gleichen Formkomponente mit, ergibt sich mit der Zeit ein immer regelmäßigeres Bild von dieser „Bildlichkeit“. So lassen sich alle Formkomponenten automatisch gut merken.
Man sieht sofort, dass die gleiche Memotechnik besser funktioniert, wenn wir sie mit Daten füttern, die auch in Realität funktionale Gemeinsamkeiten haben. Denn die Übersetzung von realem Objekt zu Memoobjekt reflektiert die gleichen Eigenschaften, die das reale Objekt hat. Und zwischen zwei Memo-Objekten existieren auch die gleichen Verbindungen wie auch zwischen den realen Objekten, nur eben in übertragener Memo-Umgebung. Der Benutzer profitiert stark vom sogenannten memory chunking effect, also dem Effekt der Objektbündelung in Memo-Techniken.