Zwischen Warlords und Astrophysik

Nachdem die VR China bei der letzten Berlinale mit zwei starken Filmen in der Sektion Generation vertreten war, ist die Volksrepublik dieses Jahr mit einem Beitrag vom Pekinger Regisseur Cao Baoping (曹保平) präsent. Wie einige andere international bekannte chinesische Regisseure – man denke an Chen Kaige oder Zhang Yimou – hat Cao Baoping an der Pekinger Filmakademie studiert, wo er mittlerweile Drehbuchschreiben unterrichtet. 狗十三 (engl. Einstein and Einstein) ist bereits sein dritter Spielfilm, seine vorherigen zwei Filme (李米的猜想, engl. The Trouble Makers, 2005; 光荣的愤怒, engl. The Equation of Love and Death, 2007) liefen bereits auf verschiedenen Filmfestivals, zum Beispiel in San Sebastian und Shanghai.

Basierend auf einer wahren Begebenheit erzählt Einstein and Einstein vom Erwachsenwerden im heutigen China. Li Wan ist ein junges Mädchen, das bei ihren Großeltern lebt und deren Eltern geschieden sind. Die neue Frau des Vaters ist schwanger, was sie der Elfjährigen zunächst verheimlichen.

Während der Vater schulische Höchstleistungen von Li Wan fordert, hat er zugleich nie Zeit für ihre Sorgen und Interessen, wie zum Beispiel die Astrophysik. Um das angespannte Verhältnis aufzubessern, überhäuft er sie mit Geschenken – eins davon ist ein kleiner Hundewelpe. Nachdem sie ihn zunächst abweist, freundet sie sich doch mit dem Welpen an und gibt ihm den Namen „Einstein“. Alles scheint sich zum Guten zu wenden. Dann zieht vorübergehend die ältere Cousine ein, um Li Wan beim Englischlernen zu helfen, aber damit fängt das Familiendrama erst richtig an. Von der Cousine lernt sie alles außer Vokabeln und treibt sich mit ihr in Bars und auf der Rollschuhbahn herum. Als dem Großvater ihr geliebter Einstein auf dem Markt wegläuft, ist der Konflikt mit der Familie unausweichlich.

Außer sich vor Trauer, stellt sich Li Wan zu allem quer. Die Großeltern sind überfordert, und die Eltern begegnen ihrem Verhalten, das sie als pure Widerborstigkeit interpretieren, mit aller Härte. Li Wan müsse nun endlich erwachsen werden. Also versucht der Teenager zu verstehen, was es bedeutet, eine Erwachsene zu sein, und die Verwandlung zu einer solchen hinter sich zu bringen. Am Ende des Films hat sie das Verhalten der Erwachsenen adaptiert. Es geht dabei nicht um Gerechtigkeit oder Moral; Erwachsene sind durchaus fehlbar, aber sie haben immer Recht. Das ist die traurige Lektion, die Li Wan lernen muss.

Mit einem präzisen Blick zeigt Cao Baoping die Probleme chinesischer Familien in der Erziehung von (Einzel-) Kindern auf. Es gelingt ihm, sich den komplizierten Emotionen von Heranwachsenden einfühlsam zu nähern und lässt somit Zuschauern jeden Alters und jeder Herkunft sofort mit seiner starken Protagonistin mitfühlen. Der Film ist gleichzeitig hochaktuell, da er die Probleme von Patchworkfamilien anspricht und zugleich die in China immer noch präsente, traditionelle Bevorzugung von Söhnen thematisiert.

Der Film glänzt mit hervorragenden Schauspielern – vor allem der wunderbaren Hauptdarstellerin Zhang Xueying (张雪迎) – und glaubwürdigen Dialogen. Allerdings hätten weniger Musik dem Schauspiel mehr Tiefe verliehen und das Tempo sich ab der zweiten Hälfte des Films durchaus steigern können. Der Regisseur beleuchtet sehr kritisch das Miteinander in der kleinsten Zelle der Gesellschaft und zeigt auf, dass dort einiges im Argen liegt.  Einerseits müssten sich die äußeren Rahmenbedingungen ändern, wie zum Beispiel die Strukturen des Arbeitsmarkts und Bildungssystems. Diese Art von Veränderungen kann nur die Regierung bewirken, weshalb man diese Feststellung durchaus als eine indirekte Handlungsaufforderung sehen kann. Andererseits bedarf es ihm eines Bewusstseins- und Wertewandels. Dieser Wandel wird von der Gesellschaft getragen und ist unaufhaltbar. Bei den jungen Menschen macht sich der Einfluss von alternativen Ideen und Lebensanschauungen bereits bemerkbar: Li Wan begeistert sich für Stephen Hawkings Theorien über Paralleluniversen statt für Cao Cao*. Diese junge Generation wird sich einen eigenen Weg bahnen. Die Hoffnung auf Veränderung ruht bekanntlich immer auf den Schultern der Jüngeren, was man als Optimismus oder als Abweisen der eigenen Verantwortung der jetzigen Erwachsenengeneration sehen kann.

*Cao Cao曹操, Pinyin Cáo Cāo war ein Stratege, General und Warlord gegen Ende der späten Han-Dynastie und hat neben Gedichten auch Schriften zur Kriegsführung verfasst.

Pinyin der im Text genannten chinesischen Filmtitel:

狗十三 – gŏu shí sān

李米的猜想 – lĭ mĭ de cāixiăng

光荣的愤怒 – guāngróng de fènnù

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sinonerds-Autor*in

Siyuan He

Siyuan kam bereits als Säugling in die Bundesrepublik und hat in unterschiedlichen Bundesländern gelebt, bis sie schließlich Berlin zu ihrer Heimat auserkoren hat. Ihre Passion fürs Schreiben verbindet sie am liebsten mit dem Kennenlernen neuer Menschen aus anderen Kultur- und Sprachräumen. Momentan setzt sie ihre Erkundungsreise in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba fort, wo es (nicht nur) viele chinesische Geschichten zu erzählen gibt.

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