Das Gefühl der Zugehörigkeit

Wang Yiquan arbeitet als Chinesisch-Dozentin an der Freien Universität Berlin. Sie kommt ursprünglich aus Kaohsiung, Taiwan, und studierte Fremdsprachendidaktik in Taipei. Sie verbrachte ein Auslandsjahr als Studentin in Bonn und arbeitete für ein Jahr in Münster als Chinesisch-Dozentin. Im Interview spricht sie über ihre persönlichen Eindrücke von Deutschland und darüber, wie sich ihr Leben in Berlin von ihrer Heimat Kaohsiung unterscheidet.

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Wang Yiquan

sinonerds: Wie hast Du Dich gefühlt, als du die Zusage für die Stelle an der FU Berlin bekommen hast?

Wang Yiquan: Ich war voller Vorfreude und fühlte mich sehr beschenkt, da es vielleicht das letzte Mal sein wird, dass ich längere Zeit ins Ausland gehe. Meine Eltern werden sich bald anfangen, um ihre Zukunft Gedanken zu machen und dann kommen Fragen nach Heirat und Kindern auf.

Also wenn diese Chance etwas später gekommen wäre, wärst Du nicht gegangen?

Meine Eltern hätten es nicht gesagt, aber sie hätten ihr Missfallen angedeutet. Je älter meine Eltern werden, desto schwerer wird der Abschied. Ich konnte jetzt auch nur weggehen, da meine ältere Schwester in der Nähe meiner Eltern wohnt. Schon diesmal habe ich sehr lange überlegt.

Was ist der größte Unterschied zwischen Kaohsiung und Berlin?

Die zwischenmenschliche Kommunikation! In Taiwan kann ich in den Augen und der Mimik lesen, was mein Gegenüber meint. In Deutschland funktioniert das irgendwie nicht so gut. Ich weiß dadurch oft nicht, wie ich reagieren soll. Zum Beispiel weiß ich nie, ob ich Busfahrer grüßen soll oder nicht, während die Dönerverkäufer immer sehr freundlich sind.

Passiert Dir das mit Deinen deutschen Bekannten auch?

Das kann man schlecht vergleichen, da diese fast alle Chinesisch können und die Chinesische Kultur kennen. Sie sind alle an Ausländer gewöhnt. Aber letztes Weihnachten war ich bei der Familie eines Freundes. Nach dem Abendessen wollte ich fragen, ob ich in der Küche etwas helfen könnte, denn in Taiwan gehört sich das so für einen Gast. Mein Bekannter meinte jedoch später zu mir, dass das in Deutschland von Gästen nicht erwartet wird. Solche Kulturunterschiede führen dazu, dass man sich über die einfachsten und natürlichsten Dinge den Kopf zerbricht.

Meinst Du, dass Du Dich an das Leben in Deutschland gewöhnt hast?

Jetzt ist es viel besser als im Winter, als ich gerade neu in Berlin war. Ich habe mich an deutsches Essen gewöhnt, zum Beispiel habe ich damals in Bonn Vollkornbrot nicht gemocht, jetzt finde ich es ganz gut. Als ich in Taiwan war, habe ich auch keinen Käse gegessen. Ich habe in Münster angefangen, Käse zu essen und habe es sehr genossen.

Wie ist das Arbeitsumfeld hier im Vergleich zu Taiwan?

Meine Arbeit hier hat einige Unterschiede zu meinem Job in Taiwan. Zum einen hatte ich dort einen Chef, hier habe ich niemanden, dem ich mich verantworten muss, außer meinen Studenten. Ich kann frei entscheiden, was ich vorbereiten will und muss nicht fürchten, dass irgendwann mein Boss kommt und mich feuert. Außerdem ist das Arbeitsklima sehr gut, da die Lehrer sich untereinander unterstützen und gute Praktiken teilen. Das hätte ich so nicht erwartet! In einer Firma hat man vielleicht auch Freunde unter den Kollegen, aber es gibt auch immer einen kleinen Teil Wettkampf. Vielleicht wird irgendwann eine Stelle gestrichen und es könnte deine sein. In der Uni scheint es unter den Kollegen auch tatsächlich kollegialer zuzugehen. Wenn ich also ein Problem habe, kann ich meine Kollegen einfach fragen, ohne mir Sorgen zu machen, wie ich dabei dastehe.

Gibt es einen Unterschied zwischen den Studierenden hier und denen, die Du in Taiwan unterrichtet hast?

Es gibt überall Studierende, die Interesse am Fach haben und welche, denen das Interesse fehlt. In diesem Sinne sind sich Lernende überall sehr ähnlich. Meine Schüler in Taiwan haben für Ihren Unterricht bezahlt, was natürlich einen großen Unterschied macht. Jetzt unterrichte ich vor allem Studierende an der Uni, die eine ganz andere Motivation haben. Meine Studierenden hier scheinen eher gewillt zu sein, meine Meinung anzuhören, anstatt sie vorab abzulehnen. Ob sie meine Vorschläge auch umsetzen, ist natürlich eine andere Frage. Wirklich verallgemeinern kann man eh nicht, da jeder Mensch anders ist!

Bist Du in Deutschland je auf unlösbare Situationen gestoßen?

Da ich im Alltag eigentlich immer meine Kollegen oder Studierenden fragen kann, gab es da eigentlich kaum Probleme. Die größte Schwierigkeit war wahrscheinlich das Gefühl, dass ich nicht hierher gehöre… Es gibt ein Gefühl der Zugehörigkeit (归属感), das einem sagt, wo man sich zu Hause fühlt. Manchmal denke ich darüber nach, dass ich nun zum dritten Mal für längere Zeit in Deutschland bin, mich an das Leben hier gewöhnt habe und trotzdem noch eine Ausländerin bin. Im Alltag kann man für fast alle Probleme eine Lösung finden, aber bei dieser Frage weiß ich nicht, wie man so ein Gefühl des “zu Hause seins” bekommen kann. Sollte ich überlegen, meine Zukunft irgendwo zu verbringen, wäre es für mich wichtig, dass ich mich dort auch zu Hause fühle. Ein, zwei Jahre sind normalerweise kein Problem, aber 10 oder 20 Jahre ohne ein Gefühl der Zugehörigkeit würden mir Angst machen.

Was gibt Dir denn in Taiwan ein Gefühl von Zugehörigkeit?

Dass man ganz natürlich seinen nächsten Schritt tun kann. Du kannst ganz natürlich sein und weißt einfach, wie du reagieren kannst, ohne einen Fehler zu machen. In Deutschland muss ich immer vorsichtig sein und überlegen, bevor ich reagiere. Man ist daher immer etwas angespannt und nie ganz relaxt. Vielleicht ist ein Jahr in einem anderen Land aber auch zu kurz, um sich ganz dort einzuleben. Frag mich am besten nächstes Jahr nochmal.

Interview und Übersetzung aus dem Chinesischen: Johannes „Jojo“ Heller

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sinonerds-Autor*in

Johannes Heller

Jojo studierte Chinastudien und Friedensforschung in Berlin, Nanjing und Brisbane. Akademisch steht für ihn Chinas aktuelle Rolle als regionaler Akteur in Asien im Mittelpunkt. Nebenher entdeckt er gerne neue Musik und Podcasts.

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